Zeit vergeht nicht. Sie nimmt uns mit.
Je älter ich werde, desto schneller scheint die Zeit zu vergehen. Tage lösen sich ineinander auf, Wochen verflüchtigen sich, Monate fallen beinahe geräuschlos hinter uns zurück. Vielleicht geht es euch ähnlich. Wer Familie hat, kennt diese Taktung nur zu gut. Sie entsteht nicht aus einzelnen Terminen, sondern aus Rollen, die sich überlagern: Partnerin oder Partner, Kollegin oder Kollege, Vater oder Mutter, Tochter, Sohn, Führungskraft, Freund. Jede Rolle bringt Erwartungen mit sich – von außen, aber vor allem von innen. Und so bewegen wir uns durch den Alltag, funktionierend, planend, reagierend, oft ohne innezuhalten.
Wir sind selten wir. Meist sind wir Rollen.
Während das Jahr zwischen Arbeit und Urlaub, zwischen Haus, Hof, Kindern und Eltern nahezu unbemerkt vorüberzieht, entsteht gegen Ende plötzlich der Wunsch nach Besinnlichkeit. Weihnachten wird zur Projektionsfläche für etwas, das wir das ganze Jahr vermisst haben: Ruhe, Sinn, Ordnung. Wir wollen zurückblicken, Bilanz ziehen, uns vergewissern, dass all das Tragen, Aushalten und Funktionieren nicht umsonst war. Wir formulieren Wünsche, nehmen uns etwas vor und hoffen insgeheim, dass das kommende Jahr das hält, was das vergangene schuldig geblieben ist.
Besonders deutlich wird dieser Mechanismus bei Selbstständigen und Unternehmerinnen und Unternehmern. Der Plan sollte längst stehen, Budgets verteilt, Auftrags- und Abnahmelagen klar sein. Entscheidungen mussten getroffen werden, obwohl die Rahmenbedingungen alles andere als stabil waren. In einer Zeit, in der die Ungewissheit über das, was kommt, nicht kleiner, sondern größer wird, wächst der Druck, dennoch Sicherheit auszustrahlen. Doch vielleicht sind es gar nicht die neuen Ziele, die wir jetzt brauchen. Vielleicht ist es nicht die nächste Strategie, nicht der nächste Plan und nicht einmal das nächste Jahr, das endlich besser werden soll als das vorige.
Vielleicht brauchen wir – genau jetzt – etwas anderes.
Vielleicht brauchen wir den Mut, für einen Moment stehen zu bleiben. Nicht, um erneut zurückzuschauen und zu bewerten, was gut lief und was schlecht lief, was erreicht wurde und was nicht. Sondern um wahrzunehmen, was wir im Hier und Jetzt noch in den Händen halten. Nicht im übertragenen Sinn, sondern ganz konkret. Was tragen wir noch mit uns herum? Welche Gedanken, welche Verpflichtungen, welche inneren Aufträge haben wir nie hinterfragt, sondern einfach weitergetragen?
Der Akku war leer. Wir liefen weiter.
Aus meinen Gesprächen und Coachings im Jahr 2025 ziehe ich eine klare, wenn auch ernüchternde Erkenntnis: Für viele war es ein Jahr, das mehr verlangt hat, als es versprochen hat. Erwartungen standen im Raum, die man nur zum Teil selbst beeinflussen konnte. Und genau daraus entstand ein innerer Druck, diesen Erwartungen dennoch gerecht werden zu müssen. Es folgten Entscheidungen, oft schwer, oft unumkehrbar, verbunden mit Abschieden – von Menschen, von Rollen, von beruflichen Identitäten, von Vorstellungen darüber, wie das Leben hätte verlaufen sollen.
Darauf folgte nicht selten eine Phase der Anpassung, in der sich viele fragten, ob sie dem überhaupt gewachsen seien. Ob sie richtig entschieden hatten. Ob sie stark genug waren. Und am Ende stand häufig das Durchhalten. Nicht, weil alles gut war, sondern weil Aufgeben keine Option zu sein schien. Während alte Emotionen noch nicht verarbeitet waren, wurde der gleiche innere Augenblick immer wieder durchlebt – gedanklich, emotional, körperlich.
Es war ein Jahr, in dem Verantwortung schwerer wog als Leichtigkeit. Viele Dinge gehen uns erstaunlich leicht von der Hand, doch unser Gehirn richtet seinen Fokus bevorzugt auf das Schwere. Genau diese Themen fordern uns heraus, lassen uns wachsen oder scheitern, prägen unser Selbstbild. Es war ein Jahr, in dem viele von uns funktioniert haben – auch dann noch, als der innere Akku längst auf Reserve lief. Ich habe das bei vielen erlebt. Und vielleicht hast du es bei dir selbst gespürt.
Funktionieren ist keine Stärke. Es ist ein Zustand.
Sätze wie „Ich darf mir eine Pause gönnen“ oder „Ich darf auf mich selbst achten“ wirken plötzlich fremd, fast unangemessen. Dabei belohnt das Leben weder Überforderung noch Selbstaufgabe. Es sendet keinen Blumenstrauß, wenn wir mehr leisten, und es bestraft uns nicht, wenn wir innehalten. Oft bleibt die Situation dieselbe – nur unsere Wahrnehmung, unsere Bewertung, unser innerer Druck verändern sich.
Und genau deshalb möchte ich diesen Moment, diesen Übergang zwischen den Jahren, nicht nutzen, um nach vorne zu rennen. Nicht, um neue Ziele zu formulieren oder alte zu optimieren. Sondern um innezuhalten. Vielleicht können wir gemeinsam – jede und jeder für sich – einen stillen Abschluss markieren. Nicht laut. Nicht endgültig. Aber bewusst.
Denn wir gehen nicht leer ins neue Jahr. Wir gehen meist zu voll.
Zu voll mit Erwartungen, die wir nie überprüft haben. Zu voll mit Gedanken, die nie zu Ende gedacht wurden. Zu voll mit Rollen, die wir irgendwann übernommen haben – und nie wieder abgelegt. Zu voll mit inneren Verpflichtungen, von denen niemand weiß, dass wir sie tragen.
Nicht alles, was wir tragen, gehört uns noch.
Und genau hier beginnt eine entscheidende Frage: Was hältst du noch fest – nicht, weil es dir guttut, sondern weil es einmal wichtig war?
Viele von uns verwechseln Festhalten mit Verantwortung. Loslassen mit Schwäche. Akzeptanz mit Aufgeben. Doch das Gegenteil ist der Fall. Loslassen ist kein Rückzug. Es ist eine Entscheidung für Klarheit. Für innere Ordnung. Für Führung – nach innen.
Vielleicht magst du dir jetzt einen Moment Zeit nehmen. Nicht, um etwas sofort zu lösen, sondern um wahrzunehmen. Was aus 2025 darf bleiben? Was hat dich getragen, genährt, gestärkt? Welche Begegnung, welche Erkenntnis, welche Erfahrung war wirklich echt? Und dann – genauso ehrlich – die andere Seite: Was darf gehen? Nicht, weil es falsch war, sondern weil es seinen Zweck erfüllt hat.
Manche Aufgaben. Manche Erwartungen. Manche Selbstbilder. Vielleicht sogar manche Vorstellungen davon, wie du sein musst, um wertvoll zu sein.
Mit vollen Händen kann man nichts Neues greifen.
Mit leereren Händen ins neue Jahr zu gehen bedeutet nicht, weniger zu haben. Es bedeutet, wieder greifen zu können. Bewusster. Freier. Aufrechter. Das Jahr 2026 wird nicht leichter, weil wir mehr kontrollieren. Es wird klarer, wenn wir weniger festhalten.
Und vielleicht ist genau das die stillste und zugleich kraftvollste Entscheidung, die du jetzt treffen kannst: nicht alles mitzunehmen, nicht alles weiterzutragen, nicht alles zu rechtfertigen. Manches darf hier enden. Ohne Drama. Ohne Erklärung. Ohne Schuld.
Was wäre, wenn innere Freiheit kein Ziel ist, das wir erreichen müssen, sondern der Raum, der entsteht, wenn wir aufhören, uns selbst festzuhalten?
Danke, dass du dir diese Zeit genommen hast. Danke, dass du gelesen hast. Und vielleicht – danke auch dir selbst, für alles, was du getragen hast. Wir hören uns wieder. Im neuen Jahr. Mit etwas weniger in den Händen – und vielleicht mit etwas mehr bei uns selbst.
Was lässt du bewusst in 2025 zurück?