Teil 2: Ein Fall zum Projektmanagement oder: Mit harten Bandagen gekämpft
Dieser Fall zum Projektmanagement liegt mehr als 20 Jahre zurück, aber die Geschichte könnte sich heute noch einmal genauso abspielen. Es ging um den Bau eines Kraftwerks – naturgemäß ein Großprojekt, bei dem viele Unterprojekte abgewickelt werden mussten. Eines davon war die betriebsbereite Schaltung eines Großaggregats (Frischlüfter) zum 15. Juni. Unser Kunde hatte die Oberbauleitung und verfolgte die Einhaltung der gesetzten Zwischentermine mit großer Sorgfalt. Damit der Frischlüfter termingerecht geschaltet werden konnte, mussten Elektriker (wir) und Maschinenbauer gut zusammenarbeiten. Doch genau das war das Problem…
Hohe Durchschlagkraft
Man muss dazu wissen, dass der Frischlüfter ein großes Aggregat ist, mit Hochspannung um die 10.000 Volt betrieben wird und eine Leistung in der Größenordnung von 2.000 kW (2 MW) aufweist. Es handelt sich um dasjenige Gebläse, welches in den Verbrennungsraum des Kessels Luft einbringt. Wenn der Antrieb (Elektromotor) zum Frischlüfter losgeht und die Getriebe und Gebläse dahinter nicht sauber montiert sind, dann fliegen einem die Fetzen um die Ohren!
Das Schwarze-Peter-Spielchen
Beteiligte waren der Lieferant des Frischlüfters, der Maschinenbauer und wir, die Elektriker. Der Frischlüfter war zwar termingerecht geliefert und aufgestellt worden. Aber wir wussten genauso gut wie die Mechaniker, dass die jeweils andere Seite noch nicht so weit war, den Lüfter zu schalten. Der Termin rückte näher und beide Seiten beruhigten sich mit dem Wissen, dass sich der andere in Terminverzug befand. Das typische Schwarze-Peter-Spiel nahm seinen Lauf: Wer von den beteiligten Gewerke-Lieferanten den Schwarzen Peter zog, bekam ihn nur schlecht wieder los und lief Gefahr mit einer Strafe belegt zu werden. Aber wir mussten uns ja keine Sorgen machen, weil wir wussten, dass wir im Zweifelsfall den Schwarzen Peter immer schön der anderen Seite zuschieben konnten. Und die andere Seite dachte genauso.
Der Tag der Entscheidung rückt näher
Dann rückte der Tag vor dem gesetzten Meilensteintermin heran. Wir, die Elektriker, konnten klar erkennen, dass die Maschinenbauer weit hinter dem Termin lagen. Allerdings konnten die Maschinenbauer das auf unserer Seite ebenfalls erkennen, denn die nötigen Kabel waren noch längst nicht verlegt und angeschlossen. Wir erkannten, dass wir am Ende auf dem Schwarzen Peter sitzen bleiben würden, denn es war offenkundig, dass die Elektrik nicht funktionieren würde. Damit wären die Maschinenbauer fein raus gewesen.
Nacht- und Nebel-Aktion
Was sollten wir tun? Es gab nur eine Lösung: In einem echten Gewaltakt zauberten wir über Nacht das Unmögliche. Unsere komplette Montagemannschaft musste eine Nachtschicht einlegen und alles geben, was sie konnte. Aber das können die Elektriker. Am nächsten Morgen hatten wir alles verkabelt und angeschlossen. Wir waren betriebsbereit.
Ich weiß etwas, was Du nicht weißt…
Die probeweise Einschaltung des Frischlüfters war auf 10:00 Uhr angesetzt. Die Maschinenbauer ahnten natürlich nichts von unserer Nacht- und Nebel-Aktion, und wenn irgendwem die blassen Gesichter unserer Leute aufgefallen sein sollte, dann schob er sie wahrscheinlich darauf, dass wir Angst vor der Stunde der Wahrheit hatten. Jetzt erschien der Kunde in der Leitwarte, um die Einschaltung des Frischlüfters unter Beisein der betroffenen Gewerke-Lieferanten zu überprüfen. Die Maschinenbauer waren entspannt, denn sie glaubten ja immer noch, dass die Elektrik nicht verkabelt sei. Der Kunde forderte uns auf, die Schalthandlung durchzuführen. Das ist an sich keine große Sache, es muss lediglich eine kleine Taste in der Leitwarte gedrückt werden. Wir wussten aber: Wenn wir diesen Schalter betätigen, dann ist im Kraftwerk die Hölle los, denn dann fliegen die Fetzen. Die Maschinenbauer aber glaubten zu wissen, dass der Schalter nicht angeschlossen und nicht verkabelt war.
Der Augenblick der Wahrheit
Der Kunde forderte uns auf, den Schalter zu betätigen (diese Schalthandlung führt in solchen Fällen der Elektriker aus). Wir fragten die Maschinenbauer, ob sie betriebsbereit seien. Sie bejahten. Wir versicherten wiederum, dass auch wir betriebsbereit seien. Sollten wir die Schalthandlung durchführen und dadurch größeres Unheil herbeiführen? Wir stellten die Frage erneut an die Maschinenbauer. Sie bejahten wiederum. Wir stellten die Frage ein letztes Mal, jetzt drohend. Da knickten die Maschinenbauer ein. Wir hatten ihnen zu erkennen gegeben, dass ihnen im Falle der Schalthandlung das Aggregat um die Ohren fliegen würde. Sie erklärten, die Schaltung sei nicht möglich, da sie noch nicht so weit seien. Wir hatten gewonnen.
Kein Beispiel für ein gutes Projektmanagement
Ein Beispiel aus dem Leben? Das schon, aber kein Beispiel für ein gutes Projektmanagement. Jetzt denken Sie an die Projekte Stuttgart 21, Hamburg Elbphilharmonie und Flughafen Schöneberg. Bei letzterem liegt der Schwarze Peter angeblich bei der Brandmeldeanlage. In Wirklichkeit versteckt sich unter diesem Gewerk viel, viel Schmutz anderer Gewerke, die sich aber besser verbergen lassen.
Hinweis zum Projektmanagement:
Lesen Sie auch Teil 1 zum Projektmanagement: Fünf Punkte, die Sie beachten müssen, wenn Sie Projekte erfolgreich durchführen wollen
(Fotos: © stuttgarter Zeitung | © Elena Schweitzer |© eus-weber)