Aufgezeichnet von Hubert Schuster im Jahr 1970
Ein Bündel vergilbter Briefe geriet mir jüngst in die Hände. Von einem durch das Alter blass gewordenen blauen Seidenband gehalten, lagen sie zuunterst in der Schublade eines alten Sekretärs, zusammengefasst von einem größeren Bogen, auf dessen Rückseite der Schreiber in der schwungvollen und zierlichen Schrift der Zeit vor hundert Jahren die Anschrift vermerkt hatte, nicht ohne noch — wie es die Etikette gebot — „per Einschreiben“ hinzuzufügen.
Ich zupfte leise und behutsam den Knoten des Seidenbändchens auf. Es dauerte eine gute Weile, bis dass es gelungen war. Mochte einst ein zarter Lavendelduft dem Papier angehaftet haben, so war jedenfalls jetzt nichts mehr davon wahrzunehmen.
Der erste Blick fiel auf das Datum: 8. September 1864! Wäre es nicht besser gewesen, den Knoten wieder zu schnüren und das ganze Briefbündel erneut in die Tiefe des alten Sekretärs zu versenken? Mit brennendem Kopf las ich weiter. Es waren Liebesbriefe, alle an die gleiche Empfängerin gerichtet, aber nicht alle von der gleichen Hand geschrieben. Die junge Dame musste wohl sehr umworben gewesen sein. Meine anfängliche Scheu war dahin. Schmunzelnd musste ich erkennen, dass sich die Menschen ewig gleich bleiben, wenn sie verliebt sind.
„Mein süßes, heißgeliebtes Thereschen“
Die Briefe waren sorgfältig geordnet, teilweise nummeriert und in Anbetracht des hohen Alters wohlerhalten. Die Vornamen der Schreiber waren Gerhard, Adolph, Fritz und Eduard. Ihre Nachnamen spielen keine Rolle und mögen verschwiegen bleiben, da sie noch heute bei einigen im Westfälischen ansässigen Familien zu finden sind. Die Anrede wechselte jeweils nach Person, Temperament und fortschreitenden Liebesempfindungen von „Geehrtes Fräulein Thereschen“ über „Liebes Fräulein Thereschen“ und „Mein liebes Thereschen“ bis zu „Mein theuerstes Thereschen“ und dem wohl nicht mehr zu überbietenden „Mein süßes, heißgeliebtes Thereschen“. Die Absendeorte lagen vorwiegend in Westfalen: Münster, Hamm, Ahaus, Lippstadt, Paderborn, doch auch in Cleve am Niederrhein in der Grafschaft Geldern, und einige der Briefe kamen gar aus Amsterdam. Man kann erraten, dass es sich zum Teil um tüchtige Geschäftsleute gehandelt hat, deren klangvolle Bezeichnung „commis voyageur (Handlungsreisender)“ gewesen sein mag, die im Gegensatz zum heutigen Stand der Vertreter noch mit einer der ersten Eisenbahnen, die damals in Deutschland gerade dreißig Jahre alt waren, und dann vielleicht auch mit Pferd und Kremser unterwegs waren.
Zeit der Biedermeier – kein Radio, kein Fernsehgerät
Es war die Zeit des Biedermeier mit gekurvten und mit gestreiftem Damast überzogenen Sofas, dem ovalen Tisch, dessen Platte nur von einem Bein getragen wurde, das dann aber wieder in mehrere gewundene Füße, alle schön gedrechselt und gebeizt, auslief, und den hierzu passenden Stühlen und Schränken. Auf der marmornen Kaminplatte standen die obligaten Photographien, genau symmetrisch um eine von Meißener Porzellanfiguren gehaltene Standuhr mit geruhsamem Perpendikel geordnet. Kein Radio, kein Fernsehgerät und kein nervöses Surren sausender Autos drangen in die Stille jener Zeit und ihrer Menschen, die noch ganz ihrer Arbeit und ihren Freuden und Leiden leben konnten. Unter solchen Voraussetzungen konnten noch echte, tiefe Leidenschaften wachsen, konnten Liebe und Hass, Zorn und Güte, Abscheu und Zuneigung gedeihen. Wo findet man heute noch solche Eigenschaften, wie sie der Briefschreiber Gerhard in einem aus Lippstadt am 4. November 1864 datierten Brief zum Ausdruck bringt.
Lesen Sie den ersten Liebesbrief im Theil 2
Liebesbriefe – Vier Artikel zu „Mein theuerstes Thereschen!“
Theil 1: Liebesbriefe vor 150 Jahren: „Mein theuerstes Thereschen!“
Theil 2: Liebesbriefe vor 150 Jahren: „Mein theuerstes Thereschen!“
Theil 3: Liebesbriefe vor 150 Jahren: „Mein theuerstes Thereschen!“
Theil 4: Liebesbriefe vor 150 Jahren: „Mein theuerstes Thereschen!“